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Dem Schmerz begegnen mit Achtsamkeit

Dem Schmerz begegnen mit Achtsamkeit

Eine Hauptfrage in unser aller Leben ist: Wie können wir gut und konstruktiv mit leidvollen Erfahrungen umgehen? Was hilft uns, in schmerzvollen und schwierigen körperlich - psychischen Herausforderungen zu heilen?

Eigentlich wollen wir das schmerzvoll Unangenehme, wenn wir könnten, aus dem Leben verbannen. Jeder und jede. 

Wir wollen nichts damit zu tun haben. Wir entwickeln Widerstände. Wir vermeiden es, wo immer wir können. Wir gehen darüber hinweg, wenn möglich. Wir kämpfen dagegen an, wann immer es auftaucht. 

Wir projizieren die „Schuld“ für Schmerz auf anderes oder andere oder fühlen uns selbst „schuldig“. Wir erleben uns als ohnmächtig und als Opfer des Schmerzes, je nachdem, wie stark wir den Schmerz erleben.

Diese Weisen, mit Schmerz und lebensbedingten unangenehmen Herausforderungen umzugehen, sind außerordentlich destruktiv und lebensfeindlich.

Schmerz findet im Körper statt. Wenn wir das, was im Körper vor sich geht, nicht haben wollen und dagegen ankämpfen, führen wir Krieg – gegen uns selbst. 

Die Grundlage unseres Lebens ist dieser Körper. Alles, was wir erleben, geschieht durch den Körper und die Sinne. Sowohl das Angenehme als auch das Unangenehme. Ohne den Körper: kein erfahrbares Leben. 

Die Frage ist: Wollen wir weiter gegen uns selbst Krieg führen? 

Wenn wir jedoch beginnen, uns dem Körper und leidvollen Zustände hinzuwenden und sie mit Aufmerksamkeit genauer zu untersuchen, passiert etwas Neues.    

Eine chinesische Formel lautet: 
Schmerz & Erwartungshaltung & Gedanken & Gefühle = Schmerz x 10

Diese Verquickung von Schmerz mit Erwartungen, Gedanken und Gefühlen, die uns vereinnahmen, verstärkt schmerzvolle Erfahrungen immens. Es ist uns meistens nicht bewusst. Wir glauben: Das muß so sein, weil es so „ist“. 

Der ganz „normale“ „Wahnsinn“, könnte man fast sagen: Da ist ein Schmerz

Erwartungshaltung: Wir wollen, dass er aufhört, so schnell wie möglich. Wir erwarten, dass der Arzt, ein Medikament den Schmerz heilen wird. Wir klammern uns an jeden Hoffnungsschimmer, der suggeriert, es könnte morgen schon besser sein.

Gedanken: „Was habe ich falsch gemacht?“ „Warum passiert das mir?“ „Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen!“ „Hoffentlich wird es nicht schlimmer …“ „Das ist nicht auszuhalten!“ „Was, wenn … ich ins Krankenhaus muss, Schlimmeres daraus entsteht …?“ (Katastrophisierungen).

Gefühle: Frustration. Enttäuschung. Angst. Befürchtungen. Ungeduld. Wut. Verzweiflung, etc.

Dieser Prozess läuft sehr subtil und unbewusst ab. In allen Menschen. Und der Widerstand, das Nicht-Haben-Wollen ist das Hauptproblem, das wir uns so selbst erschaffen, siehe Schmerzformel. Wir halten es für „normal“. Wir wissen es nicht besser.

In diesem Körper befindet sich jedoch gleichzeitig eine Superpower, die in uns allen angelegt ist, die viele Menschen in der Regel (noch) nicht zu nutzen wissen: Achtsamkeit.

Wenn wir Achtsamkeit üben, beginnen wir, eine Superpower in uns freizulegen und befähigen uns zunehmend selbst, sie anzuwenden, wann immer Schweres geschieht.

Wir müssen nicht 50 Jahre meditieren, um sie zu erlangen. Sie ist nichts, was wir erwerben müssen. Sie ist da, immer verfügbar. 

Das Einzige, was wir brauchen, ist die Bereitschaft, diese Fähigkeit zu aktivieren, um den Zugang zu ihr zu finden. Um Vertrauen in sie zu entwickeln. 

Und damit können wir heute, hier und jetzt beginnen.

Wie das geht?

Die Ausgangsbasis ist:

Wir beginnen, uns zu befreunden mit dem Menschen, der wir sind. Und wir beginnen zu untersuchen, wer wir eigentlich wirklich sind – als Mensch in dieser Welt. Im Moment. 

Nämlich: Ein lebendiges Wesen, das vielfältig und widersprüchlich, komplex und gleichzeitig sehr einfach gestrickt ist. Ein Wesen, das im Körper seinen Anfang in der Welt nimmt und das diesen Körper wieder verlässt. 

Das geboren wird, aufblüht, das Leben in allen Facetten erfährt und verwelkt – wie jedes Tier, jede Pflanze, jedes lebendige Wesen.

Der Startpunkt für alles in unserem Leben ist dieser Körper mit seinen vielfältigen Empfindungen. Und mit Gedanken, die sich in ihm allmählich entwickeln. Sowie auch mit Gefühlen. 

Und mit seinen grenzenlosen Heilungskräften, die sofort aktiviert werden, wenn wir erkennen, dass wir viel Leid selbst erschaffen durch unsere unheilvolle Weise, mit uns im Kontakt zu sein. 

Wir beginnen, all das zu erforschen, es wahr-zu-nehmen. Wir erlauben uns, zu hinterfragen, tiefer zu verstehen, uns zu öffnen für neue Erkenntnisse darüber, was in uns geschieht, während wir genauer hinschauen, wer wir wirklich sind.

Mit der Zeit erkennen wir, dass wir sehr viel mehr und sehr viel „größer“ und weiter und weiser sind als die Geschichten, die wir uns ständig erzählen. 

Wir untersuchen also unsere Gedanken. Wir können bemerken, dass wir uns unaufhörlich zerstreuen. Und dass die meisten unserer Gedanken zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar komplett falsch sind: 

Vorstellungen, Phantasien, Interpretationen, Deutungen, Bewertungen, Urteile, Erinnerungen, Klagen, Dramatisierungen – nichts als Kopfgeburten. Keine Realität. Elektrische Aktivitäten in unserem Gehirn, nur das. 

Mit z.T. immensen und unheilvollen Auswirkungen auf den Körper.

Raus aus dem Autopilotmodus dank Achtsamkeit

Ein Experiment: Wie ist es jetzt, Aufmerksamkeit zum rechten Bein zu bringen? Zum linken Ellenbogen? Zu beiden Daumen? Oder in den Atem, der gerade geschieht: einatmen - ausatmen? 

Wie ist es, zu bemerken, dass da Leben in dir ist, das ganz von selbst – einfach - geschieht?

Wir können in dieser Weise erforschen, wie es ist, im einzigen Moment, den wir erleben, wirklich da zu sein.

Die meiste Zeit sind wir so sehr beschäftigt, uns abzulenken, unaufmerksam zu sein, in Eile zu sein, über vieles hinweg zu gehen. Verloren in Gedanken zu sein. Das nennen wir den Autopilotmodus. 

Wir funktionieren bestens. Und wir lassen uns von unseren fragwürdigen Gedanken antreiben, unbemerkt und ständig.

Untersuchen, fühlen, was jetzt gerade „wirklich“ ist, sich damit befreunden, wie es ist, ist sehr anders, als sich Geschichten über etwas zu erzählen. 

Zum Beispiel über den Schmerz, und wie es wäre, wenn er nicht da wäre. Oder was für schreckliche Dinge daraus entstehen könnten. Oder wer schuldig ist, wer etwas vermasselt hat – nur nicht wir selbst – oder doch wir selbst, als Schuldige am Pranger, an den wir uns selbst stellen. 

Wenn wir mit Achtsamkeit eine Stabilität trainieren, wirklich da zu sein, gegenwärtig im Moment zu sein, ist es mit der Zeit möglich, sich dem Schmerz zuzuwenden, mit ihm etwas vertraut zu werden, ja sogar, sich mit ihm anzufreunden. Und so geht es:

Übung: Mit dem Schmerz sein - achtsam  

  1. Den Widerstand („nicht-haben-wollen“) gegen den Schmerz bemerken:

    Vielleicht hast du gerade einen Schmerz? - Spür dorthin. Oder bemerke dein Unwohlsein bei der Vorstellung, dich einem Schmerz hinzuwenden. Wo spürst du dieses Unwohlsein, diesen Widerstand im Körper? … Vielleicht als Verspannung, Enge? 

    Welche Gedanken bzgl. des Schmerzes, Unwohlseins tauchen auf? 
    z.B. Das geht doch gar nicht? Wozu soll das gut sein? Ich halte das nicht aus? Wenn das doch nur aufhören würde? Was habe ich nur falsch gemacht? Wer ist Schuld daran? Warum ich…?

  2. Tiefer in den Schmerz (das Unwohlsein) hineinfühlen, erforschen:

    Sich behutsam hinwenden: ist es fest, durchdringend, brennend, beweglich, mal stärker, mal schwächer, ausdehnend, dumpf, stechend … ?

    Verändert sich der Schmerz, während du ihn mit Aufmerksamkeit untersuchst?

  3. Interesse in dieses Erforschen bringen und eine vertrauensvolle Geste:

    Wende dich neugierig dem Schmerz zu und fühl tiefer und genauer hinein, um ihn kennenzulernen, so wie du dich einem Kind liebevoll, zärtlich widmen würdest, dass dir seine schmerzende Wunde zeigt.

    Vielleicht eine Hand auf die schmerzende Stelle legen – oder auf das Herz … - den Atem zu dem Schmerz hinlenken, durch ihn hindurch atmen - was geschieht dabei jetzt? Verweile in den Empfindungen. Spüren anstatt zu denken.

  4. Freundlich mit sich selbst sein, sich selbst Mitgefühl schenken:

    Sprich dir sanft gute Sätze zu wie z.B.: 
    Das ist jetzt schwer. Schmerz gehört zum Leben dazu. Alle Menschen erfahren schmerzvolle Herausforderungen. Ich bin damit nicht alleine. Das geht vorbei. 

    Finde einen tröstlichen Satz für dich selbst. Wiederhole ihn, wandle ihn ab, bleibe dir dabei zugewandt. Wie eine Mutter/ein Vater, der sein Kind tröstet.

  5. Den Blick heben und weiten:

    Lenke die Aufmerksamkeit jetzt in eine Region deines Körpers, die schmerzfrei ist.

    Lass sie dort nieder und fühl tiefer hinein: Was bemerkst du in dieser Körperregion? Spür die angenehmen Empfindungen dort und erlaube ihnen, sich in deinen Körper hinein auszudehnen.

    Verweile für mindestens 1-2 Minuten (gerne auch länger) an diesem Ort und öffne dich für das Gefühl genau dort, für körperliche Empfindungen und auch Gedanken. Sei neugierig.

    Erkenne: Du bist nicht der Schmerz. Da ist ein Schmerz in dir. Und da ist auch Angenehmes in dir.

  6. Und was ist jetzt da?

    Check ein: Was bemerkst du in deinem ganzen Körper nach diesem kleinen Experiment der freundlichen Hinwendung, Aufmerksamkeitslenkung und -ausdehnung? Welche Gedanken steigen auf? 

    Gibt es ein Gefühl, eine Empfindung, die vielleicht (geringfügig) verändert ist?

Wiederhole diese Übung oft, bleibe Empfindlichkeiten und auch einem Schmerz entschlossen zugewandt, entwickle eine freundliche Beziehung damit und darin mit dir selbst und sieh, was passiert, mit Geduld – immer und immer wieder. 

Es funktioniert. Ich habe mit unerträglichen Gallenkoliken über mehrere Wochen, mit einer schweren Viruserkrankung, die mir eine massive Sehstörung über 2 Monate beschert hat, mit einer Platzwunde und Schwindel, mit Migräne genau so, konsequent geübt, täglich, stündlich, minütlich. Ohne Medikamente. 

Und alles ist in dieser Weise geheilt, viel schneller und leichter, als ich mir „gedanklich“ hätte vorstellen können.

Und natürlich gilt immer: sich Hilfe holen! Erkennen, was brauche ich jetzt? Und dabei können auch Medikamente hilfreich sein, bis wir wissen, wozu diese schmerzvolle Erfahrung da ist und welche Botschaft sie uns übermitteln will. 

Wirkliche Heilung geschieht auf der Ebene von Vertrauen, tiefen Verstehens und Einsicht.

Wir können den Schmerz als ein Lernfeld betrachten lernen. Ja, wir können ihn sogar als eine Abenteuerreise in unser Innerstes und Kostbarstes begreifen. Vielleicht eine der Herausfordernsten und Spannendsten überhaupt. 

Und dabei können wir – ganz anders als gewohnt - erfahren, dass er sich mit Aufmerksamkeit und Freundlichkeit verändert, abmildert, und leichter heilen kann.

Und: ja! Es sind die Gedanken und Glaubensmuster, die uns im Weg stehen, die so viel phantasieren und dramatisieren. Wir selbst sind es, die wir immer meinen, es besser zu wissen. Dabei verpassen wir genau das, was mit Achtsamkeit und Mitgefühl erfahren werden kann: Überraschungen und „Wunder“! 

Wir verpassen das eigentliche Leben, dieses Lebendig-Sein im Moment in uns, das nur gefühlt werden kann. Das sich unsere Aufmerksamkeit wünscht, weil es darin Ruhe findet. Und unsere Liebe. 

Übrigens wende ich diese Praxis beim Zahnarzt erfolgreich an - jedes Mal wieder erstaunt. Der Raum, der zwischen dem Schmerz und meiner Aufmerksamkeit entsteht, löst jede Angst, jede Dramatik, jedes „Gefangen-Sein-in-der-Schmerzformel“ auf.

„Da-Bleiben“ und Fühlen und Wissen: „Ich bin nicht der Schmerz, da ist ein Schmerz“ - ohne hinzugefügte Gedanken - wirkt Wunder.

Und genau das wünsche ich dir von Herzen: Wunder.