Das Beste für 2019: Langsamkeit
Jedes neue Jahr startet in den Köpfen vieler Menschen mit Wünschen und Hoffnungen. Mit Plänen und Vorstellungen vor Augen und im Geist, was verändert werden soll(te).
Um all das kurze Zeit später wieder zu vergessen. Die Gewohnheitsmuster haben sich durchgesetzt. Sind in den Anforderungen des Alltags und der Arbeit untergegangen.
Es ist jedoch in unser Menschsein eingegossen, zu wachsen. Zum Höheren und Besseren zu streben. Unser Potential zu entfalten, ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist.
So sind wir von klein auf emsig, lernen, wachsen, optimieren uns und werden optimiert in ein System hinein, das wir (zunächst) für richtig und wahr halten. Allen voran die Traditionen und Vorstellungen des eigenen Familiensystems. Dann die Wertvorstellungen der Gesellschaft, in der wir leben. Biographische Erfahrungen, die unsere Gefühls- und Gedankenmuster prägen. Schließlich das, was wir aus dieser Ansammlung machen.
Bestenfalls läuft alles weitgehend gut. Wir finden unseren Weg, eine Ausbildung, eine Arbeit. Wir gründen eine Familie. Wir bauen vielleicht sogar ein Haus. Wir können uns Urlaub leisten ....
In vielen Fällen jedoch fühlen Menschen früher oder später dennoch auf die eine oder andere Weise, dass irgend etwas nicht stimmig ist. Irgend etwas fehlt. Wir sitzen dem Trugschluß auf, „nur noch“ dieses oder jenes besser machen zu müssen, damit es wirklich gut ist. Damit wir wirklich gut sind. Was genau das ist, entzieht sich oft unserer Wahrnehmung.
Und so leben viele ein Leben in Eile, Rastlosigkeit. Lassen sich durch den Tag und die Arbeit, ja selbst durch die Freizeit hetzen bzw. hetzen sich selbst, um dahin zu gelangen, wo sie glauben, da sei alles besser. In der Sorge, etwas Wesentliches zu verpassen. In Angst, den Anschluß zu verlieren, nicht dazu zu gehören.
Mein Sohn hat mich gelehrt, zu chillen.
Schon mit 6/7 Jahren, wenn ich ärgerlich wurde oder gehetzt war und ihn zur Eile antrieb, waren seine Worte: „Mama, chill ...“.
Einmal, ich am Telefon, ein Arbeitsgespräch, wild gestikulierend, total gestresst, weil er schon wieder etwas wollte – verlies er den Raum. Ich durchgeatmet, endlich!
Ca. 6 Minuten später kam er mit einem Schild aus Pappkarton an der Stirn, mit einer Kordel um den Kopf gebunden, zurück, baute sich demonstrativ vor mir auf und schaute mich grinsend an.
Die Worte auf seiner Stirn: „Bleib lokka“.
Er hat mich gelehrt, inne zu halten. Das Tempo zu drosseln. Er hat mich gefordert, meinen Leistungsanspruch bis zur Erschöpfung auszuhöhlen. Er hat mich unbeabsichtigt, aus seinem natürlichen Sein heraus, zur Langsamkeit erzogen.
Denn er lies sich überall Zeit. Er war immer der Letzte, der angezogen war - in Kindergarten und Schule, und überhaupt. Bei Ausflügen trödelte er hinterher, selbst mit seinen Freunden: immer der Letzte. Langsamkeit in seine Natur eingegossen.
Wir können viel von Kindern lernen. In gewisser Weise sind sie geborene Müßiggänger, weil sie nicht, wie wir Erwachsenen, alles nach Effizienz und Nützlichkeit beurteilen. Vieles tun sie einfach um seiner selbst willen.
Sie folgen dem inneren Impuls ihrer Neugier, verbunden mit ihrer inneren Welt, und ebenso tief im Kontakt mit der äußeren Welt. Sie leben ganz im Augenblick, so lange, bis wir es ihnen gründlich abtrainiert haben.
Viele Wünsche und Vorsätze sind gespeist von dieser Sehnsucht, zurück zu finden in diesen Raum in uns, in dem wir einfach sein können. Viele Wünsche und Vorsätze führen jedoch da nicht hin, deswegen sind sie so kraftos, und werden wieder vergessen.
Es spielt eine Rolle, welche Ziele wir uns setzen, und von welcher Motivation sie gespeist sind.
Das jedoch finden wir nur heraus, wenn wir nach innen lauschen. Das Tempo herausnehmen aus all dem Streben und Wollen, innhalten. Langsam werden um zu spüren, was eigentlich gerade geschieht. Ohne husch husch ... und bitte schneller ... und Vorübereilen .... -
Und das ist gar nicht so schwer. Überall können wir einen „Powernap“ Langsamkeit einlegen.
- Wenn wir uns selbst hetzen: das Tempo drosseln, für nur ein paar Schritte, und in die Bäume, den Himmel schauen, Vogelzwitschern hören, die Atemluft fühlen.
- Im Stress am Arbeitsplatz: kurz zurücklehnen, tief durchatmen, sich spüren, was gerade im Körper und Geist vor sich geht.
- Beim Essen verlangsamen, genau hinschauen, Farben, Formen, Gerüche wahrnehmen, langsamer kauen, einen Moment von Dankbarkeit erlauben.
- Am Wochenende: einen Tag „verschwenden“, keine Pläne, nichts müssen, Moment für Moment - schön langsam - von innen fühlen, was gelebt werden will.
- Warten an der Ampel, auf den Bus, in der Warteschlange: aaahhh ... tief durchatmen ... „meine“ Gelegenheit, zu „chillen“, - kurz den Film im Kopf anhalten, dem lebendigen Leben im Körper lauschen, „zu sich kommen“.
Wenn wir uns verbunden und gut im Kontakt mit uns selbst fühlen, kommen die Wünsche und Vorstellungen, was anders sein müsste, zur Ruhe. Wir erfahren: die eigentliche Sehnsucht, die sich als Wünsche oder Vorstellungen tarnt, ist die, in guter Verbindung mit uns selbst zu sein.
Im Kontakt mit uns selbst entsteht ein Raum, in dem wir sein können. In dem alles gut ist, selbst wenn wir Kummer erleben, oder einen Schmerz, eine Angst. Durch Langsamkeit finden wir zu uns selbst zurück.
Mit Shakespeare: „Weise und langsam. Wer zu schnell läuft, stolpert leicht“.
Das ist das Beste, was wir uns in einem neuen Jahr schenken können. So entfaltet sich alles für uns zum Besten.