Skip to main content
Plädoyer für Perfektion

Perfektion - ganz anders

Wir laufen hin und her wie aufgescheuchte Ameisen. Unaufhörlich beschäftigt. Viele Päckchen auf dem Rücken. Oder in den Schultern. Die wir von einem Winkel unseres Alltages zum anderen schleppen.
Emsig wie die Ameisen. Und wenn der Körper nicht läuft, dann springen die Gedanken in unserem Verstand, wie eine wilde Affenhorde.

Und hören auch dann nicht auf zu springen, wenn alles ruhig um uns herum ist. Dann erst recht. Rauben uns nicht nur die wohlverdiente Ruhe, sondern auch noch den Verstand. Ein unaufhörliches Streben. Angestrengt, die Dinge gut zu machen. Und gut zu sein. Und besser zu werden. Perfektionismus steht ganz oben in den Ansprüchen vieler Menschen. Um "wer" zu sein. Um sich wichtig zu fühlen. Um den Job nicht zu verlieren. Um Anerkennung zu erhalten. Um gesehen zu werden. Und letztlich doch einfach nur, um endlich geliebt zu werden. Uns liebenswert zu fühlen. Zu lieben. Und was dafür noch alles zu leisten ist! Glauben wir.

Anders als die Ameisen!

Wir sind festgefahren in der Programmierung: Nie reicht es. Etwas fehlt. In der Zukunft wird alles gut.

Wir mühen uns ab, Tag für Tag. Und doch bleibt ein unterschwelliges Empfinden: ich schaffe es nicht. Wir erleben Rückschläge, Verstimmungen, Mutlosigkeit. Immer wieder. Raffen uns wieder auf, gehen weiter. Hoffen. Denken: Irgendwann muss es doch einmal gut sein. Oder: jetzt aber wird alles gut. Und manchmal scheint es für Momente so zu sein.

Ambitioniert kaufen und lesen wir die perfekten Ratgeber dafür. Der Markt voll mit Wellness- und Gesundheitswerken, Glücksformeln und Entspannungsanleitungen, Weisheitslehren und immer noch verheißungsvolleren Therapiemethoden und Heilswegen. Wir holen uns Ratschläge, wie unser Streben noch viel wirksamer wäre. Wir buchen und besuchen Workshops, Seminare, Fortbildungen, immer noch in der Hoffnung: Das ist es! Jetzt endlich wird alles gut.

Ich weiß, wovon ich spreche: Meine Ordner sind voll mit Fortbildungs- und Seminarunterlagen. In die ich nie wieder reingeschaut habe. Meine Regale platzen vor lauter spirituellen, pädagogischen, therapeutischen Gesundheits- bzw. Glücks-Ratgebern. Die "Generation" Literatur nach der Theologie. Die diese einfach nur ersetzt hat.

Was wäre eigentlich, wenn Perfektion ganz anders ist?

Wenn Perfektion immer schon da ist und wir sie nur übersehen, vor lauter anstrengen und laufen und eilen und streben und mühen und machen? Wir selbst immer knapp daneben. Was, wenn Perfektion etwas mit Anhalten zu tun hätte. Jetzt sofort. Und still werden. Nichts tun. Aufmerksam sein. Und entspannen?

Überwältigend, was dann bemerkt werden kann und was in uns geschieht!

Stille Feuerwerke der Perfektion. Ganz lebendig, körperlich und wirklich.

Neurobiologisch passiert dann nämlich Folgendes: Wenn wir anhalten und uns erlauben, zu entspannen, wird der Parasympathikus unseres vegetativen Nervensystems aktiv. Er sorgt dafür, dass Körperprozesse und Organfunktionen zur Ruhe kommen.
Botenstoffe im Gehirn, die Stresshormone Adrenalin, Noradrenlin und Cortisol werden gebremst, Endorphine und Serotonin (auch Glückshormone genannt) werden ausgeschüttet.
Die Atmung verlangsamt sich, wird gleichmäßiger und tiefer. Wir atmen verstärkt in den Bauch, unser zweites Gehirn. Das Herz schlägt langsamer, die Pulsfrequenz nimmt ab und der Blutdruck sinkt.
Blutgefäße weiten sich und das Blut fließt leichter. Wir nehmen das als Kribbeln in den Füßen und Händen wahr. Wir spüren es als Wärme in den Händen, Armen und Beinen.
Der Spannungszustand in der Muskulatur nimmt ab und die Muskeln in den Armen, Beinen und im Rumpf entspannen. Auch die Hirnströme verändern sich im Zustand der Entspannung, besonders bei den Alpha-Wellen, die als Entspannungs-Barometer dienen. Unsere emotionale Befindlichkeit findet in einen natürlichen Balancezustand zurück. Es ist wie das Stimmen eines Instrumentes, das einfach geschieht, wenn wir anhalten. Still werden. Entspannen, tief.

Und dann, so gestimmt, kann es umso schöner und kraftvoller in die Welt klingen. Alle Körper, alle Geister sehnen sich nach dieser Erfahrung. Und benötigen sie dringlicher denn je.

Das grundlegend Gute des Lebens an sich ist niemals abwesend.

Alle Weisheitswege beinhalten als Essenz ihrer Botschaft seit Jahrtausenden, dass Leben grundlegend gut ist, wie es ist. Ja perfekt. Jedes Leben.

Sie erinnern uns an das grundlegend Gute in uns. Das ganz natürlich ist. Wahrnehmbar, verfügbar und einfach. In diesem Augenblick. Und sie vermitteln uns, dass Leben sich perfekt entfaltet, wenn wir aus dem Weg gehen. Wenn ich zur Seite trete.

Achtsamkeitsmeditation ist eine sehr hilfreiche Praxis, uns das zu vermitteln und erfahrbar zu machen: Die Perfektion dieses lebendigen Momentes hier und jetzt.

Ein Plädoyer für Entspannung in die Perfektion dieses Augenblicks!

Was dann passiert – und es benötigt absichtsvolles und wiederholtes Üben, Üben, Üben:

1. Entspannt der Körper, entspannt auch der Geist. Und ein entspannter Geist wiederum wirkt ebenso auf den Körper zurück. Das ist immer nur JETZT möglich. Wir erleben es als "flow".

2. Wir spüren, wie gut es tut, wenn Muskeln, Gewebe, Gelenke loslassen. Und wir spüren, wie angenehm es ist, wenn auch mal die Masken fallen dürfen. Ein Gefühl von "zu Hause ankommen" kann sich einstellen. Einverstanden mit dem, wen und was wir vorfinden.

3. Unsere kontrollierende und "hab Acht"-Haltung schmilzt. Weite entsteht darum herum: Wir können auch mal 5e grade sein lassen, und entdecken: Nichts Schlimmes passiert, wenn wir loslassen.

4. Diese Erkenntnis zaubert vielleicht sogar ein Lächeln ins Gesicht – im entspannten Zustand lächelt es sich nämlich auch leichter. Und wenn die Mundwinkel sich dahin verziehen, ins Lächeln, dann werden erneut Hormone im Gehirn ausgeschüttet, die diesen Gemütszustand verstärken

5. Eine Qualität von Freundlichkeit wird verfügbar, mit der wir auf die Dinge und uns selbst schauen können. Auf das, was uns sonst antreibt und leicht in eine Anspannung versetzt.

6. Wir berühren auf einer tieferen Ebene pures, pralles Leben. Lebendigsein in diesem Körper, unter dieser Haut und darinnen: Wie es da in uns pulsiert und vibriert und strömt und prickelt und kribbelt und gluckert und rauscht.

7. Der Geist weitet sich und kann dieses intelligente Zusammenspiel aller Organe und Körperfunktionen in diesem Vehikel, in dem wir auf dieser Erde reisen, wahrnehmen.

8. Eine Ebene in dem und unterhalb des ständig beschäftigten Verstandes und seiner unablässigen Geschichten tut sich auf, ein Raum von Frieden und Stille.

9. In diesem Raum berühren wir eine unermessliche Quelle von Kreativität. Ideen beginnen zu sprudeln. Wir entdecken, dass da noch viel mehr Potential ruht, als wir gewöhnlich im Alltagsgeschäft leben.

10. Wenn wir wirklich da sind, entspannt, angekommen im Nichts tun, beginnen wir bisweilen auch, uns zu wundern. Wundern darüber, dass man es sich so schwer macht im Leben. So viele Probleme kreiert. Unaufhörlich. Und die Erkenntnis: Ich mache das. Niemand als ich ist dafür verantwortlich. Und vielleicht keimt eine Idee auf, wie das geschieht. Leise. Und der Wunsch, das immer weniger zu tun.

11. Wir können sehen, dass so viele Menschen ebenso unterwegs sind: gehetzt, geschäftig, ruhelos, unablässig. Von einem Ziel zum nächsten rennend. Gedanken verloren, verschlossene Gesichter.

Als Masken mündig, als Gesicht verstummt. (Rilke)

12. In diesem Sehen stellt sich eine Empfindung von verbunden sein ein. Ich kann fühlen, wie sich der andere fühlt. Weil ich es bei mir endlich sehe, und kenne.

13. Und eine vielfach vergessene Kraft findet den Weg ans Licht: Die Güte. Die in jedem Menschen schlummert. Die erwacht, wenn wir das grundlegend Gute in uns erkennen und spüren – endlich!

Kabir dichtet: "Ich lache, wenn ich höre, dass den Fisch dürstet nach Wasser."

Hier ist die Wahrheit: Wohin immer wir eilen und streben und rennen, wenn wir das nicht erkennen, die Perfektion des Lebens selbst in uns und um uns herum, erscheint uns unser Leben unperfekt. Und die Welt bleibt uns unwirklich.

Wir geben das Kostbarste preis. Für die Illusion, ja, den Wahn, wir müssen anders sein, uns anstrengen und eilen und hetzen, um endlich gut genug zu sein. Wir geben das preis, was wir natürlich in uns tragen. Das, was wir auch Schönheit und Wahrheit und das Gute, das Unbekannte und das Mögliche, das Wirkliche, hier und jetzt, nennen können.

Ich träume von einer Welt, in der wir entspannt und beherzt dieser Perfektion des Lebens selbst dienen.

In allem, was sich zeigt, ohne Ausnahme.

Mit dir, mit Ihnen gemeinsam, vielleicht?