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Raum der Stille Berlin

Mit Würde den Namen Mensch tragen

Brandenburger Tor - ein Sonntagvormittag in Berlin - die Sonne scheint durch das Fenster des Nordflügels direkt in mein Gesicht.

Hufgeklapper auf dem Asphalt des Pariser Platzes. Großstadttouristen, groß und klein, tummeln sich auf der Amüsiermeile der Berliner Mitte.

Stimmengewirr, hier und da ein explodierendes Kinderlachen. Ein Orgelspieler zieht seine Runden. Gemütliche Klänge schwängern die Geräuschkulisse.

Im Eingangsbereich des Raumes der Stille. Mein Blick schweift über ein Plakat: FRIEDEN, in 48 Sprachen der Welt. Darunter das Gebet der vereinten Nationen:

Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. Wir wollen daraus einen Planeten machen ohne Krieg, Hunger und Furcht. Keine Trennung mehr nach Rasse, Hautfarbe und Weltanschauung.

Die Bitte um Stärkung, heute damit beginnen zu können. Damit unsere Kinder und Kindeskinder einst mit Stolz den Namen Mensch tragen.

Wie sehr das drängt!

Ein Besucher bemerkt ehrfurchtsvoll: Was ist das für ein schöner Text! Wir kommen leise ins Gespräch, über das Wort "Herr", das ihn stört. Über die Gewalt im Außen, in Worten und Taten – ich ergänze: und in uns. Ja, stimmt er gleich zu, bei Erbstreitereien in der Familie. Da hat er das auch in sich erfahren. Erzählt, wie schmerzhaft das war. Und unversöhnlich.

Wenig später tritt ein Mann mit Frau und drei Kindern aus der Stilleoase heraus. Mit breitem Lächeln auf den Lippen. Ich frage nach, was ihn amüsiert. Er: "Wir mussten da drinnen so lachen, dann haben wir uns aber langsam beruhigt".

Ein anderer Mann betritt den Vorraum, scheu. Schaut sich um. Liest sich durch die Informationen an den Wänden. Verweilt mit seinem Blick auf dem Plakat "Frieden". Dann wendet er sich zum Gehen. Etwas aber aber lässt ihn zögern. Ich finde seinen Blick, lade ermunternd ein. Er kommt noch einmal näher. Traut sich jetzt zu fragen, was man hier macht. Sich hinsetzen und still werden. Ausruhen. Nichts tun. Schauen, was gerade da ist. Meditieren, wenn man mag. Einfach ausprobieren, sage ich. Seine Neugier geweckt. Als er aus dem Raum der Stille zurückkehrt, mit offenen Augen jetzt, drückt er Erstaunen aus. Erzählt, er komme aus Jerusalem. So ein Raum, das wäre auch in seiner Stadt interessant. Er will diese Idee mitnehmen.

Stille kann uns verunsichern, wenn wir sie nicht gewohnt sind. Und ängstigen. Dabei ist sie so sehr unsere Natur! Wie in jede Zelle eingegossen. Der Hintergrund des Vertrauens, wie ein bekannter Theologe dazu sagt.

Wenn wir uns auf Stille einlassen, dann sortiert sich alles neu.

Jeder, der Stille gewagt hat, kommt anders zurück. In den Gesichtern, in den Augen: sie glänzen oder lächeln. Sie wirken nachdenklich. Manche sehr ernst. Selbst bei denen, die nur die Nase hinein gestreckt haben. Oder nur eine Minute im Raum ausgehalten. Wie auf der Flucht, schnell wieder draußen. Im Flüchten sich selbst ertappt. Manche bleiben länger. Sie bringen die Stille mit in den Vorraum zurück. Sie bewegen sich langsamer. Achtsamer.

Blicke begegnen einander. Wissend. Wie: zur Besinnung gekommen.

Als ich diesen Ort entdeckte, war am Brandenburger Tor emsige Betriebsamkeit. Wie heute. Wie beinahe täglich. Damals: die Festspuren der Silvesternacht zu beseitigen. An diesem späten Morgen des Neujahrstages: geschlossen. Die Entdeckung lies mir keine Ruhe. Ich forschte, was es damit auf sich hat, fand Kontakt, sah den Raum, und blieb. Ein Mal im Monat. Ein paar Stunden die Stille halten. Ehrenamtlich. Mit ca. 90 engagierten Menschen verschiedener Religionen und Nationalitäten, die sich abwechseln. Alle erleben es als Bereicherung ihres Lebens. Sitzen da gerne. Stille wirkt tief auf Körper, Geist und Seele.

Es liegt im stille Sein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche. (Dietrich Bonhoeffer, evangelischer Theologe)

Räume der Stille sind Orte, an denen wir mit uns selbst in Berührung kommen. Mit diesem Körper und diesem Atmen und der Unruhe, den Sorgen und Gedanken. Orte, an denen etwas zur Ruhe kommt in uns. Es gibt sie überall. Das kann die Natur sein. Oder eine Kirche. Oder ein eigens dafür eingerichteter Raum wie hier. Oder die Warteschlange in der Post , an der Kasse, an der Bushaltestelle – Gelegenheiten, den Raum der Stille in uns zu betreten.

Stille ist gratis. Vielleicht ist sie deswegen von unendlichem Wert?

Das, was wesentlich ist, kostet nichts. Nur unsere Offenheit. Unser einlassen. Auf Stille. Auf eine Begegnung. Auf die Liebe. Frieden.

Hier, an diesem historischen Ort: Ein Ort, der Kriege erlebt hat und Teilung und Frieden. An dem Nationen zusammengetroffen sind unter widrigsten Umständen. An dem Menschen sich versöhnt haben. Frieden üben in mir und für die Welt. Wenn wir nur hin und wieder stille werden, hat das Auswirkungen auf alles.

Mein Kind soll mit Stolz den Namen "Mensch" tragen können.

Die Worte der UNO im Eingangsbereich berühren viele. Die Handys werden gezückt, um sie zu photographieren. Erstaunlich. Alle denken daran, sie auszuschalten, bevor sie Stille wagen.

Menschsein vorleben ist nicht leicht. Es ist Gabe und Aufgabe. Die Stille hilft, tiefer zu erfahren und zu erforschen, was das heißen kann: Wahrhaftig Mensch werden, sein, wie der ZEN-Lehrer Willigis Jäger zu sagen pflegt. Wir alle brauchen Kraftorte in dieser schnellebigen und geschäftigen und überreizenden Welt. Orte, an denen wir uns besinnen. Zur Besinnung kommen. Anhalten und begreifen: Leben ist einmalig. Ist deswegen wertvoll. Wir wollen es doch erhalten. Das eigene. Das der anderen. Das Leben auf dem Planeten Erde. Damit wir eine Welt kreieren, in der unsere Kinder und Kindeskinder mit Freude leben können.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Im Gebet der Vereinten Nationen heißt es: Gib uns Mut und Kraft, schon "heute" mit diesem Werk zu beginnen. Es gibt nichts aufzuschieben. Keinen Traum. Keine Vision. Keine Handlung. Unsere Friedensarbeit ist dringlicher denn je. Und sie beginnt immer in uns selbst.

Herzliche Grüße aus dem Raum der Stille.